Eine Klassenfahrt: Guttstädter Schüler in der Lüneburger Heide

Von Rainer Claaßen

Keine Stunde hatte ich Mitte Juni bei bestem Wetter mit meiner Mutter und meinen Freunden Caius Schleicher, Gert Lietz, Achim Ströer, Kalle Mösing, Bürgermeister Torsten Harms, Landsmann Erwin Borries aus Schmoleinen und meinem roten VW-Käfer „Klärchen“ bei Santelmann’s Hof, dem Trau- und Festsaal der Gemeinde Wathlingen im Landkreis Celle auf den Bus aus Ostpreußen warten müssen. Jarek Kowalski, Lehrer an der Staatlichen Allgemeinbildenden Schule Guttstadt, hatte die Idee mit der Klassenfahrt gehabt, Torsten Harms hatte die Teilnehmer eingeladen, die CDU-Fraktion hatte den Abend organisiert, und der BJO hatte, wie üblich, „einen Knopf dran gemacht“.

Der Bus fuhr nahezu pünktlich vor. 50 Mädels und Jungs verschiedener Guttstädter Schulen stiegen aus, gefolgt von Kasia, der Direktorin der Grundschule, Natalia, ihrer Mitarbeiterin, Jarek von der Staatlichen Schule und Tomasz Bartold von der Privatschule.

Noch während der herzlichen Begrüßung legte Annemarie Mösing die Würste auf den Grill; die Wathlinger Frauen hatten Salate gemacht, und Gert Lietz hatte für Getränke und Geschirr gesorgt. Bürgermeister Harms hielt eine angenehm kurze, launig-herzliche Rede, dann forderte er das junge Volk auf, zuzugreifen.
Vor dem Ostpreußischen Landesmuseum

Vor dem Ostpreußischen Landesmuseum Bild anklicken, um es zu vergrößern

Nachdem sich die Reisenden ordentlich gestärkt hatten, kam die Überraschung des Abends: Kasia, die Musikalische, hatte mit ihren Schülerinnen Lieder einstudiert. Der Mädchenchor stellte sich vorn auf und sang erst einmal – zur Klärung aller Fronten – das Ostpreußenlied „Land der dunklen Wälder“ – auf deutsch und in einem mehrstimmigen Satz! Ein Hammer!

Hinsichtlich der Identifizierung der polnischen Schüler mit ihrer Stadt setzte der junge Chor ein deutliches Zeichen. Sie sangen ein selbst komponiertes Lied mit deutsch-polnischem Text auf Guttstadt. Der deutsche Refrain begann: „Wir singen ein Lied von Guttstadt“. Ein echter Brückenschlag! Erwin Borries, der als Kind noch in Guttstadt zur Schule ging, war hingerissen, wir anderen nicht minder. Natürlich fehlten auch der soldatische Gassenhauer „Lilly Marlen“ und zur Abrundung das friedensbewegte „Sag mir, wo die Blumen sind“ nicht.

Als ich nach einigen herrlichen Stunden der Gespräche den Bus zur Jugendherberge Celle lotste, war es fast halb zehn.

Am nächsten Morgen trafen wir uns beim Celler Schloß mit den beiden Stadtführerinnen, die uns die guten Wathlinger besorgt hatten. Gerade als wir mit der Führung beginnen wollten, tauchte ein Hochzeitspaar auf, um sich vor dem Schloß fotografieren zu lassen. Jarek, der es als erster bemerkte, gab zusammen mit Kasia ein paar Kommandos, und schon reihte sich der Chor vor dem verdutzten Brautpaar auf und sang ihnen ein fröhliches „Sto lat“. Das Paar bedankte sich herzlich, und der Brautvater zog spontan einen 20-Euro-Schein hervor mit den Worten „Kauft für alle ein Eis!“. Dann ging die Führung richtig los.

Im Anschluß an die Stadtführung konnten die Schüler die historische Altstadt Celle auf eigene Faust erkunden. Der Chor hatte sich in der Stadt immer wieder aufgebaut und sein Repertoire professionell zum besten gegeben und für ein Konzert im Ernestinum, einer Celler Schule geworben. Dort sollte um 18.00 der öffentliche Auftritt des Chors und der Theatergruppe erfolgen. In der Lokalzeitung war der Termin bereits angekündigt worden. Der Auftritt der Schüler fand auch statt, nur leider schlecht besucht – so schlecht, daß ich mich als BJO-Vertreter in Grund und Boden schämte! Dabei hatten sie außer den Liedern auch noch zwei Theaterstücke auf deutsch einstudiert: „Telefonfürsorge“ und „Rotkäppchen“, das Letztere als Parodie!

Vor dem Ostpreußischen Landesmuseum.

Vor dem Ostpreußischen Landesmuseum.

Zum Glück hatte Annemarie ein Trostpflaster parat: Sie lud diejenigen, die Lust hatten, ein, zur Tanzschule mitzukommen und anschließend bei ihr zu übernachten. Tatsächlich fanden sich einige interessierte Mädchen, und so verfrachtete ich sie in den Käfer. Bevor wir starteten, besprach ich mit Jarek, daß wir uns nachher in der Jugendherberge Müden (Örtze) treffen wollten. Dann brummte Klärchen zwar voll beladen, aber kreuzbrav nach Klein Hehlen hinüber.

Als ich meine Fahrgäste abgeladen hatte, machte ich mich auf den Weg nach Müden. Auf dem Hof der Jugendherberge wartete bereits mein alter Freund Karsten Denda mit seiner Frau Anja und Sohn Christian aus Hambühren; die drei hatten in einem großen Zelt zwei Stunden lang belegte Brote hergestellt und für Getränke gesorgt. Die Jugendherberge hatte zwei große Kannen mit Tee gestiftet. Wir wollten den Polen das typische Heidebrot mit den gängigsten landestypischen Wurstsorten zeigen. Doch wer nicht kam, war der Bus! Schließlich ging ich in die Jugendherberge und bat, telefonieren zu dürfen. Nun begann ein wildes Recherchieren und Telefonieren. Ich rief zunächst in Guttstadt an, erfuhr aber von Jareks Frau Ala, daß ihr Mann kein Mobiltelefon habe. Sie wollte mir die Nummer ihrer Tochter geben, diese war allerdings nicht im Bus, sondern mit Annemarie in der Tanzschule. Es war zu spüren: bei Ala war der Adrenalinpegel bereits in der roten Zone! Sie besann sich aber und gab mir die Nummer von Kasia, die mit im Bus saß. Ich erreichte Kasia sofort und fragte: „Wo seid Ihr?“ Antwort: „Wir fahren jetzt nach Müden rein, wir sind falsch gefahren!“ – „Wo wart Ihr?“ – „Im anderen Müden!“ Au weia! Sie waren tatsächlich von Celle nach Müden an der Aller bei Gifhorn gefahren und hatten einen Umweg von über 100 Kilometern gemacht! Kein Wunder, daß sie so spät kamen. Ich rief nochmals bei Ala an und teilte ihr mit, daß sie sich keine Sorgen mehr zu machen brauche.

Es dämmerte schon sehr stark, als der Bus eintraf. Die Kinder stürzten sich auf die Brote und aßen wie die Scheunendrescher. Anschließend fielen sie in die Betten, während ich mich mit Karsten und seiner Familie auf den Weg nach Hambühren machte.

Am Sonntag früh holte ich zunächst Annemarie und ihre Übernachtungsgäste ab. Klärchen rollte mit offenem Faltdach und gemütlich grummelndem Boxer durch den wirklich herrlichen Morgen bis Soltau; der katholische Gottesdienst in St. Marien hatte bereits angefangen, aber wir kamen noch rechtzeitig. Der Chor sang während der Wandlung (Vorbereitung des Abendmahls) ein polnisches, geistliches Lied, das die Begeisterung der Gemeinde hervorrief und noch Stunden später zu Nachfragen führte, wie Bernhard Knapstein bestätigte. Es ist seine Heimatgemeinde.

Nach dem Gottesdienst stürzte sich die ganze Meute in den Heidepark. Jarek und ich hatten keine Lust, und so unternahmen wir einen Käferausflug durch die Umgebung. Ich meldete mich bei meinem ehemaligen Soltauer Kollegen Bernd Harder und bat ihn, Jarek seine Modellbahn-Großanlage zu zeigen. Als Jarek die Anlage erblickte, wurde er blaß; das einzige, was er noch sagen konnte, war: „Das müssen die Kinder sehen!“ Nach einigem Hin und Her war es beschlossene Sache: eine kleine Gruppe von ausgewählten Schülern würde hergebracht werden!

Wir fuhren mit Klärchen und Bernds Auto zum Heidepark; es war schon siebzehn Uhr vorbei, bald würde der Park schließen. Jarek stöberte die acht Jungen auf und erklärte, sie müßten mitkommen. „Warum?“ – „Überraschung!“ – „Was für eine?“ – „Sagen wir nicht!“ Darauf Jareks Sohn Michal: „Wenn Ihr beiden Euch eine Überraschung ausgedacht habt, dann muß es entweder mit Käfer oder mit Eisenbahn zusammenhängen!“ Nun waren die Mädchen hellhörig geworden und rebellierten auch prompt: „Was denn, eine Überraschung – ohne uns? Wir wollen die Überraschung auch sehen!“ Das Ende vom Lied war, daß der ganze Bus bei Bernd und Monika in der Visselhöveder Straße vorfuhr! Monika, Bernds Frau, legte Decken auf den schattigen Rasen und stellte Mineralwasser, Saft und Gläser bereit, während Bernd die Schüler grüppchenweise durch die gigantische Anlage schleuste, deren Umfang in anderen Ehen zur Scheidung führt. Die Schüler waren völlig erschlagen! Anschließend fuhren wir im Verband nach Müden zurück – diesmal, um Zeit zu sparen, quer über den Truppenübungsplatz, was dem Busfahrer nicht behagte (Schilder mit der Aufschrift „Warnung“, „Militär“, „Scharfschießen“ usw. sind im fremden Land nicht jedermanns Sache!). Für das Abendessen hatten wir mit einem griechischen Lokal Sonderkonditionen ausgehandelt, allerdings machten nur wenige Schüler davon Gebrauch.

Montag war Abreisetag, aber es stand von vornherein fest: Schüler aus Ostpreußen zu Besuch in der Heide müssen zumindest auch mal ins Verweis auf externe Seite Ostpreußische Landesmuseum. Dieser Tag war also Lüneburg gewidmet. Das Museum hat eigentlich montags geschlossen, aber Bernhard hatte die Öffnung für uns ausgehandelt. Museumsleiter Dr. Barfod leitete persönlich, zusammen mit Kulturreferentin Julia Venderbosch, die Führung in zwei Gruppen. Auffallend war, wie er in vorauseilender politischer Korrektheit ein paarmal sagte, dieses oder jenes sei in Zusammenarbeit mit dem Museum in „Olsztyn“ gemacht worden, das ja gar nicht weit von „Dobre Miasto“ entfernt läge. Jarek Kowalski, polnischer Lehrer für Deutsch und Geschichte, sah sich genötigt, Dr. Barfod zu unterbrechen: „Sagen Sie bitte „Allenstein“ und „Guttstadt“, wir kennen das alle, genau wie Königsberg, Memel und Neidenburg!“ Und die Kinder nickten im Chor. Ein Pole erklärt einem Deutschen, wie er ostpreußische Städte nennen soll. Das hatte was und machte wieder einmal positiv deutlich, daß man polnisches Geschichtsbewußtsein nicht unterschätzen sollte! Als der polnische Chor im Museum noch einmal den Satz des Ostpreußenliedes sang, wußte auch der letzte Museumsmitarbeiter bescheid.

Nachdem es uns mit Hilfe der Wathlinger Freunde gelungen war, einen liegengebliebenen Rucksack zurückzuerhalten, nahmen wir tränenreichen Abschied. Dann machte sich der Bus auf den Weg in die Heimat.

Was bleibt? Die Erinnerung an ein paar stressig-schöne Tage und die Gewißheit, daß die Guttstädter im nächsten Jahr wiederkommen werden!

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