BJO-Paddeltour 2002

von Rüdiger Danowski

Als man am Abend des 17. Juli Abschied vom heimatlichen Ansbacher Hafen nahm, herrschte im erst zum Teil gefüllten Minibus eine ungewöhnlich ruhige, anheimelnde Stimmung. Man wappnete sich mental für das vor uns stehende Unternehmen “Ostpreußen”. Wird wohl der “Reiseveranstalter”, der uns ein schwammiges, unklares Bild vom Mysterium Ostpreußen vorschoß, seinen Versprechungen gerecht werden? Pures Interesse, Fahrtenlust oder natürlich ostpreußische Wurzeln führten insgesamt neun junge Menschen zusammen, die für eine Woche ca. 80 Kilometer auf der Kruttinna paddeln wollten. Die Anreise führte uns über die Hauptstadt Berlin, die Marienburg, Schloß Schönberg und das marode Schloß Finckenstein. Hier überkamen selbst unseren mitgereisten Nachfahren der Familie Finckenstein kalte Schauer. Es war sein erster Ostpreußenaufenthalt.

Wo immer wir die Füße auf den Boden setzten, umwehte uns ein Hauch ostpreußischer und deutscher Geschichte. Wenn man sie doch nur weiterschreiben könnte… Deutlich erkennbar versucht man – meist durch kirchenähnliche Bauten der Polen – die deutschen Elemente des Landes zu zersetzen. Aber noch finden wir die Spuren!

In Wigrinnen/Masuren angekommen schlagen wir müde unsere Zelte auf, gehen baden und singen bei Gitarrenklang mit der herrlichen Sommernacht unsere Lieder.

Der erste Seetag begann mit dem Verladen der notwendigen Fracht wie Überlebensausrüstung samt Nahrungsmitteln in die Boote. Wer von Logistik bisher keinen blassen Schimmer hatte, der mußte nun kreativ werden. Nach der Packorgie, die die Boote nicht unbedingt seefester gemacht hatte, konnte es losgehen. Das heißt, anfangs hatte das Fortkommen im Fluß starke Ähnlichkeit mit dem Staken… Nein, meine Freunde, das sollten wir doch erst später zu Gesicht bekommen! Sei's drum. Wir hatten schon recht damit, unser Tagesziel möglichst gering zu stecken und da uns die Sonne wie lange nicht mehr hold war, ließen wir zudem noch ein Menge Zeit beim entspannenden Treibenlassen auf dem eindrucksvollen Fluß. Obwohl dieses Fleckchen Erde touristisch noch relativ unerschlossen scheint, tummeln sich dort mancherorts Horden polnischer Jugendgruppen.

Wie wohl jeden Abend müssen wir uns heute eine Bleibe, ja eigentlich nur einen kleinen natürlichen Schutz suchen. Schwierig heute. Der Magen brummt uns und dann muß man auch noch einige für die Nacht vorgesehene Plätze links liegen lassen, da wir uns nicht gerne im Müll zur Ruhe legen möchten. Doch da, wie eine mit Licht durchflutete Schneise, weist uns die Sonne zu einem wunderschönen, unbefleckten Stückchen Erde, auf dem wir gleich unsere Zelte aufschlagen und mit der verdienten Mahlzeit bei Gesang, Diskussion und ostpreußischen Geschichten dem Abendrot nachsehen.

Die Nacht – so erholsam sie war – endete jäh mit dem Bersten der Kiefern über unseren Zelten. Ein Gewitterregen setzte ein, der uns erst rasch das nötigste zusammenpacken und im Folgenden aneinander kauern ließ. Nun saßen wir fest! Erst als uns polnische Forstreiterei das letzte feucht-warme Zelt abzubauen aufforderte, mußten wir uns gänzlich dem Regen ausliefern. Pudelnaß schon trat man die Fahrt an. Man verspürte nicht mal Lust, die anderen Boote ins Schilf zu bugsieren oder die Wasserschlachten vom Vortag weiterzuführen. Sieben ganze Stunden hatte uns der Regen gekostet. Ob wir heute unser Tagesziel noch schaffen? Soviel Schönheit uns auch die Flußlandschaft beschert – die in der Mitte unseres Flaggschiffes hoch oben thronende Elchschaufel schlackert jetzt naßschlaff mit dem Wind. Wir müssen weiter, bis endlich ein geeigneter Rastplatz gefunden ist. Spannung – Hoffnung – Da! Wir sehen sie, eine kleine Inselgruppe inmitten des langen Muckersees. Um jetzt den besten Platz zu finden, teilen wir uns auf. Nach der Erkundungsfahrt auf dem See wieder vereint, beschließen wir, die linke Insel zu nehmen. Meine Güte, endlich raus aus den nassen Klamotten, die restlichen trockenen über und dann schleunigst ans Lagerfeuer! Umringt von dampfenden Textilien ließen wir uns die von unserem ältesten Paddler gefischten Flußmuscheln schmecken. Der Tag hatte genug Kräfte gezehrt und ließ uns bald in die Zelte verschwinden.

Voller Elan stachen wir anderntags in See. Die Wolkendecke riß nun schon öfter einmal auf und wir sahen es als gutes Zeichen, daß endlich unsere Fahne wieder aufrecht im Wind stand. Schon bald war alles wie am ersten Tag: Wasserschlachten bisher ungeahnten Ausmaßes setzten ein, man verbündete sich, brach die “Bündnisse” je nach taktischer Situation, trieb einander ins hohe Wassergras und schaufelte Wasser in die Boote – nur der eine Tag Wasserschlachtpause zog solche Konsequenzen nach sich… Kleine Verschnaufpausen boten uns hier diverse Schleusen; und auch hier packen wir sofort unsere Angeln aus und prüfen, ob trotz der stellenweise sehr leergefischten Flußteile Petrus ein Auge zudrückt.

Einfach ein herrliches Gefühl, mit den Beinen im erfrischenden Kruttinnawasser die Seele baumeln zu lassen, fernab jedes Motorgeräusches, fernab jeden Zeitdruckes und jeder Hektik! Dennoch mußten wir langsam einen Zeltplatz finden, es dunkelte ja schon. Rechtzeitig gelangten wir an einen passenden Ort, an dem sofort die Angeln ausgeworfen, die erneut nassen Kleider zum Trocknen aufgehängt und ein Lagerfeuer angeschürt wurden. Wir hatten sogar Würste gekauft, bei deren Anblick uns das Wasser im Munde zusammenlief. Daß wir derartige Fettschläuche vor uns hatten, konnte man ihnen noch nicht ansehen. Erst das Zubeißen ließ diese weit spritzend zerplatzen. Nur wenige kamen ungeschoren davon: Zwei unserer Mitfahrer bekamen gleich, ein dritter am nächsten Morgen, Magenprobleme! Mit solch zersetzenden Maßnahmen hatten wir nicht gerechnet! Der dritte Tag ging zur Neige während alle übrigen Jungen Ostpreußen solange klassischer ostpreußischer Literatur lauschten, bis wir gemeinsam auf den Geburtstag unseres ältesten “Mädels” anstoßen konnten.

So schön der lange Sommerabend, so überwältigend die von Sternschnuppen erhellte Nacht noch war, hatten wir morgen den größten Weg zu bewältigen. Trotz morgendlicher Frühe hatten wir einen Entschluß zu fassen: Wir hatten die Wahl zwischen schneller paddeln und dafür noch einen langen Tag durch das Land zu fahren oder den Fluß bis zu unserem Ziel noch zu genießen, dafür aber längere Zeit zu benötigen. Die “Wahl” fiel deutlich zugunsten der “Laßt uns mehr von Ostpreußen sehen” aus. Na gut. Doch wie sollten wir das schaffen? Wir legten los, was das Zeug hielt. Da wir jetzt einen “Wurstkranken” hatten, ging alles noch mehr in die Arme! Die zerstörungswütigen, wasserspritzenden Boote mußten sich fortan auch zurückhalten.

Die Kräfte waren schon fast verbraucht, als man in den eindrucksvollen Beldahnsee einbog. Scheinbar war unser Jüngster derart entkräftet, daß er inmitten des weiten Sees lauthals um Hilfe quäkte…und prompt hielt ein Motorboot auf uns zu! Ein Haufen Jungens bot uns seine Hilfe an. Da zögerten wir keinen Augenblick, fingen die Leinen auf und ab ging die Post! Mit einer für die Boote nicht bekannten Geschwindigkeit tuckerten wir gemütlich und bester Stimmung in den Wigrinner Bootshafen ein, wo wir zuallererst die Boote ausräumten und dann schleunigst eine echte Dusche genossen! Wie neue Menschen versammelten wir uns nach alter Tradition in einer Schlußrunde, in der man den Tag Revue passieren läßt.

Nach einem ausgiebigen Frühstück packten wir unsere Fahrzeuge, um auf dem Heimweg noch mehr vom Land zu sehen zu bekommen. Zuerst statteten wir dem alten Phillipponenkloster in Eckertsdorf einen Besuch ab, es folgten im Herzen Masurens Lötzen mit seiner “Festung Boyen”, Nikolaiken, Schloß Kleinort, der Ort des “Carol” und Heiligelinde. Von Allenstein aus ging es weiter nach Sauerbaum, wo wir uns einer BJO-Maßnahme anschlossen. Vor Ort sanierten wir gemeinsam mit anderen BJO'lern einen alten Gedenkstein aus dem I.Weltkrieg (siehe unseren Bericht von der Kriegsgräberaktion). Nachdem dort nach eintägiger Unterstützung die wesentliche Arbeit verrichtet war, trafen sich alle dort Befindlichen, um uns Paddler zu verabschieden. Dieser vollendete Ausklang ließ uns weniger schweren Mutes die Heimreise antreten.

Doch nicht genug der Erlebnisse. In Berlin empfing uns noch eine BJO-Familie, die uns bei Kaffee und Kuchen die selbst gestaltete Stadtführung versüßte. So, nun aber ging es endgültig heim. Die Fahrt eignete sich gut, das Erlebte überdenken und erfassen zu können.

Wie schnell gingen diese Tage wieder vorbei? Kaum hatten sie angefangen, fuhr man zurück. Ein furchtbarer Zustand, gegen den sich nur eines unternehmen läßt: Wieder hinfahren!

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